Vortrag von Dr. Sebastian Seidel bei der Friedrich-Naumann-Stiftung

Pragmatische Schritte zur europäischen Zusammenarbeit

Vortrag von Dr. Sebastian Seidel bei der Friedrich-Naumann-Stiftung

Pragmatische Schritte zur europäischen Zusammenarbeit

RM // Köln, 20.11.2020

Europa soll auch im Verteidigungsbereich stärker zusammenwachsen – dies ist eine Leitlinie deutscher Sicherheitspolitik. Aber wie kann dies in der Praxis aussehen? Pragmatische Schritte zeigte jetzt unser Kollege Dr. Sebastian Seidel bei einem Vortrag an der Friedrich-Naumann-Stiftung auf. Wir unterhielten uns mit ihm über Möglichkeiten und Herausforderungen.

Zur Person: Sebastian ist Manager im Themenfeld Strategie und dort verantwortlich für das Thema Strategische Vorausschau. Als Projektleiter hat er einen Schwerpunkt auf Europa, Sicherheitspolitik und Multinationalität. Die Ausführungen stellen seine persönliche Sicht dar.

Lieber Sebastian, vorneweg: Wie kam es, dass Du Dich diesem Thema zugewendet hast?
Während meines Studiums in Münster und Peking habe ich mich schwerpunktmäßig mit Außen- und Sicherheitspolitik beschäftigt, gerade in dem Verhältnis zwischen Deutschland, Europa und der Volksrepublik China. In jüngerer Zeit hatte ich Gelegenheit, im Rahmen des Manfred-Wörner-Seminars - einer Kooperation zwischen dem Verteidigungsministerium und dem German Marshall Fund - mich mit deutschen und amerikanischen Teilnehmern zu Aspekten der transatlantischen Sicherheitspolitik, den Herausforderungen der NATO und der EU auszutauschen. Das Thema liegt mir also persönlich am Herzen und ich freue mich sehr, hier bei BwConsulting einen Beitrag dazu leisten zu können.

Und welche Verbindungen gibt es zu Deiner Beratungstätigkeit?

Bei der BwConsulting haben wir uns in vielen Dimensionen mit Europäischer Verteidigung beschäftigt. Ein Beispiel ist unser Projekt "Europakoordinator" im vergangenen Jahr. Aber auch außerhalb dessen finden sich zahlreiche Engagements in Projekten, Positionspapieren, Fachartikeln, Masterarbeiten und Vorträgen. Dieses Jahr habe ich beispielsweise ein Projekt im Bereich Projektmanagementberatung geleitet. Gerade dort sehen wir einen hohen Bedarf, Multinationalität vom Anfang des Prozesses an mitzudenken.

Im Interview


Dr. Sebastion Seidel

030 - 403667 156

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In welchen Bereichen könnte die Zusammenarbeit aus Deiner Sicht gestärkt werden?
Ich sehe hier mehrere Ansatzpunkte. Beispielsweise im Bereich der Beschaffung und des Betriebs: Ganz einfach gesagt, je gemeinsamer Europa einkauft, desto besser. Das ist natürlich in dieser Einfachheit nicht ganz richtig, aber es ist schon möglich, durch Vereinheitlichung und größere Produktmengen Skaleneffekte in den Dimensionen Einkauf, Nutzung, Schulung etc. zu realisieren. Hier ist allerdings wichtig, dass die gemeinsamen europäischen Produkte dann nicht überfrachtet sind mit einer Sammlung unterschiedlicher Vorstellungen, sondern klare Produkte rauskommen – Stichwort Interoperabilität. Ein europäisches Beschaffungsamt, das die Prozesse vereinheitlicht und die Produktdefinition koordiniert, könnte hier meines Erachtens helfen. Anbieten würden sich beispielsweise die European Defence Agency EDA oder auch die OCCAR (Organisation Conjointe de Coopération en Matière d'Armement; Gemeinsame Organisation für Rüstungskooperation) als Beschaffungs- und Nutzungsamt.

Es gibt bereits europäische Projekte, um eine Art „militärisches Schengen“ zu ermöglichen
Ein weiterer Punkt: In Bezug auf die europäische Infrastruktur kommt Deutschland als Transitland eine besondere Rolle zu. Der gesamte Staat muss hier besondere Anstrengungen leisten, um Versorgung, Verlagerung, Sicherung bis hin zu interoperativen Führungsverfahren sicherzustellen, damit der Einsatz von Streitkräften innerhalb Europas langfristig gewährleistet werden kann. Straßen, Züge, sämtliche Verkehrswege müssen in der Lage sein, militärisches Gut und Personal aller Streitkräfte zu transportieren. Dies ist - allerdings als nationale Autarkie im Bereich Infrastruktur - auch in der Konzeption der Bundeswehr und ihrem Fähigkeitsprofil festgeschrieben. Dieses Ziel sollte also ausgeweitet werden. Es gibt bereits europäische Projekte, um eine Art „militärisches Schengen“ zu ermöglichen – daran kann man anknüpfen. Auch bei der Ausbildung des militärischen Personals können Prozesse und personelle Angelegenheiten vereinheitlicht werden, wenn gemeinsame europäische Verteidigungsfähigkeit tatsächlich das Ziel ist. Auch hier gibt es bereits Projekte. Diese heben insbesondere die Interoperabilität der europäischen Streitkräfte durch eine Standardisierung von Ausbildungsprozessen hervor. Um diese Ziele umzusetzen, werden im Rahmen eines Zertifizierungszentrums gemeinsame Übungen der Streitkräfte mit zivilen Verbänden durchgeführt. Auch in der Bundeswehr existiert hier bereits ein Mechanismus zur mittelfristigen Anpassung der Personalplanung.

Folglich könnte die Integration weiterer europäischer Soldatinnen und Soldaten mit wenig zusätzlichem Aufwand umgesetzt werden. Das Personalboard, welches die Personalplanung überblickt, berücksichtigt unter anderem Aufgaben und Anforderungen der Bundeswehr. Dies ist umso wichtiger, da eine europäische Zusammenarbeit im Bereich der Ausbildung sowohl die Ausbildungsinhalte als auch die militärischen Kulturen der verschiedenen Streitkräfte konvergiert und somit die Interoperabilität der europäischen Armeen vereinfacht. Die Kooperation mit verbündeten Nationen wird aufgrund der Vielzahl an Ausbildungssystemen und Übungen - wiederum basierend auf diversen Fähigkeitsanforderungen - behindert. Diese Diskrepanz der Personalanforderung sollte zur Förderung der Verteidigungsintegration eliminiert werden.

Kannst Du konkrete Beispiele nennen, wo Kooperation einsetzen könnte?

Das klassische Beispiel hier ist die zersplitterte europäische Beschaffung. So haben wir beispielsweise in unserem Positionspapier „Der kooperative Imperativ“ gezeigt, dass sich in der Nutzungsphase ca. 21 Prozent der Gesamtkosten einsparen lassen, wenn vorher gemeinsam entwickelt und beschafft wurde. Man darf nicht vergessen: Jeder Mitgliedsstaat hat sein eigenes Ministerium und seine eigenen Waffentypen. In der EU sind dies 178 Waffentypen im Vergleich zu 30 in den USA – aber eben auch 28 Verteidigungsministerien im Vergleich zu einem.

Ein weiteres Beispiel: Der demografische Wandel. Da er eine Herausforderung fast aller europäischen Länder ist, stehen auch die Streitkräfte anderer Mitgliedstaaten vor einer erschwerten Personalbedarfsdeckung. Ein Ziel der Bundeswehr sollte aus meiner persönlichen Sicht daher sein, durch Kooperation diese europaweite Herausforderung gemeinsam zu meistern. Es ist beispielsweise denkbar, den Arbeitsmarkt der EU als möglichen Rekrutierungspool anzusehen, anstatt sich auf den deutschen Arbeitsmarkt allein zu konzentrieren. Die dadurch erweiterten Perspektiven - europäische Karrieren, Möglichkeit zum Sprachen-Erwerb und anderes - erhöhen die Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber. Ferner kann durch eine Koordinierung der europäischen Streitkräfte am Arbeitsmarkt ein gemeinsames Verständnis der Armeefunktion sowie eine europäische militärische Kultur kultiviert werden.

Die „europäische Säule“ der NATO wurde bereits von Kennedy angedacht.
Welche Schwierigkeiten gibt es auf dem Weg dorthin?

Ich denke, eine besondere Schwierigkeit ist die uneinheitliche Vision, wohin sich die Europäische Verteidigung entwickeln soll. Ebenso wird der Aufbau europäischer Verteidigung häufig als „Konkurrenzveranstaltung“ zur NATO gesehen – was nach meiner Auffassung nicht der Fall ist: Die „europäische Säule“ der NATO wurde bereits von Kennedy angedacht. Spannend sind hier auch noch einmal die Ergebnisse des CARD-Berichts (Coordinated Annual Review on Defence), dessen Ergebnisse die EDA heute veröffentlicht hat. Dies stellt die erste vollständige europaweite Verteidigungsreview dar und zeigt uns die innereuropäischen Unterschiede noch einmal auf.

Meines Erachtens müssen wir uns aus deutscher Sicht sowohl fragen, ob wir bereit sind, genug zur europäischen Verteidigung beizutragen, damit diese erfolgreich sein kann – und, ob wir agil genug sind, uns erfolgreich einzubringen. Ein Beispiel: Frankreich kann aufgrund seiner Strukturen eine ganz andere Geschwindigkeit in Rüstungsprojekte reinbringen. In französischen Rüstungsprojekten hat der Projektleiter zum Ministerialbüro drei Ebenen, in Deutschland sind es sieben. Dadurch laufen Entscheidungsprozesse natürlich ganz anders.

Wie könnten aus Deiner Sicht Lösungen aussehen?

Ich persönlich meine: EU-Politiker und Regierungsvertreter der Mitgliedstaaten wiederholen oft die Wichtigkeit einer Europäischen Verteidigungsunion, doch kommt ihre Entwicklung nur schleppend voran, obgleich das Optimierungspotenzial in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoilitik groß ist: Die nicht ausreichende Finanzierung von Forschung und Entwicklung verteidigungsrelevanter Technologien, die mangelnde Interoperabilität europäischer Waffensysteme, die Verdopplung von Fähigkeiten, wenige integrierte militärische Strukturen und der konsolidierte Binnenmarkt für Rüstungsgüter charakterisieren derzeit die europäische Verteidigung.

Ich denke, gerade für Deutschland, aber auch für alle Nationalstaaten stellt sich die Frage, wie ernst wir Europäer es tatsächlich mit der Europäischen Verteidigungsunion meinen. Es gibt eine Vielzahl von Initiativen zur Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeit, aber eine echte Verteidigungsunion gibt es so bisher noch nicht. Dazu benötigt es einer stärkeren Verpflichtung zu NATO-Beiträgen, komplementär zu europäischen Strukturen, eine starke europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik und einen Verteidigungsmarkt, dessen Industrie in den notwendigen Schlüsseltechnologien qualitativ und quantitativ führend ist - letztlich das, was Jean-Claude Juncker als „Weltpolitikfähigkeit“ bezeichnet hat.

Streitkräfte können durch Kooperation schon heute pragmatisch und sinnvoll wirtschaftlichen, politischen, institutionellen und militärischen Nutzen realisieren. Für das BMVg und die Bundeswehr sollte Kooperation aus meiner Sicht daher nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein. Hierfür sollten Aktivitäten im Rahmen der Fähigkeitsentwicklung zunächst und vorrangig kooperativ angegangen werden: von der gemeinsamen Ableitung von Fähigkeitsforderungen, der gemeinsamen Forschung und Entwicklung, der kooperativen Beschaffung bis hin zur gemeinsamen Nutzung. Erst, wenn kein Partner zur Entwicklung und Erhalt einer Fähigkeit gefunden werden kann, ist eine rein nationale Fähigkeitsentwicklung anzustreben. Deutschland bietet sich dabei aufgrund seiner festen Einbindung in verteidigungspolitischen Bündnissen und seiner traditionellen pro-EU Ausrichtung als Gestalter der Verteidigungsintegration an. Dieser Herausforderung ist die Bundeswehr meines Erachtens gewachsen.

Sebastian, habe vielen Dank für das ausführliche Gespräch!